Träumereien und der Carter-Effekt auf die Erinnerung
Die Zeit für Träumereien ist fast vorbei, aber die Auszeit trug Früchte, denn der Skandal des Tritts verabschiedete sich, die Rossi-Márquez-Fehde und Lorenzos Titelgewinn wurden auf eine realistischere Weise gesehen. Nun richten sich die Scheinwerfer auf 2016: der Kampf beginnt erneut, die Rivalitäten sind intensiv – mit Michelin-Reifen und dem Phantom von Stoner als Wildcard-Fahrer für Ducati.
Es sieht nach einem guten Jahr aus, aber später mehr davon. Es gibt noch ein paar Träumereien, die zuerst aus dem Weg geschafft werden müssen. Ich wurde in meinen Träumereien von einem neuen Buch bestärkt, das vom buchstäblich «larger than life» Chris Carter, einem einmaligen GP-Journalist, Moderator, Verleger und Mann vieler Kontakte geschrieben wurde. «Chris Carter at Large» ist eine persönliche Tour voller Anekdoten durch ein tubulentes Leben im Rennsport, angefangen beim Motocross in den 1960ern, durch die USA, Großbritannien und Europa – auch hinter den Eisernen Vorhang – die Gesichte endet, als die neuste GP-Generation in Aktion trat.
Carter kannte jeden und hatte einen Einblick in alle Ebenen des Sports. Wo sonst sollte man über die strikten Ernährungsvorlieben von Ron Haslam lesen, und wie sein abenteuerliebender Sohn Leon den Fleisch-und-Gemüse-Rocket Ron an Garnelen heranführte.
Carter mochte fast jeden. Auch über mich verlor er zwei, drei gute Worte, doch dafür muss man sich bis auf Seite 232 von 233 durcharbeiten. Doch es gibt interessante Ausnahmen. Phil «Seht wie großartig ich bin» Read ist eine davon, auch Barry Sheenes manipulative Ausgelassenheit wird neben seinen Fähigkeiten und Stärken ergründet. Sheene wird so beschrieben: «Mister Charming, aber innen drin nicht nur nett, ich habe Angst.»
Ich bewunderte immer Carters Professionalität. Noch mehr beeindruckte mich aber sein Umgang mit einem Desaster. Wir kommentierten zusammen die Rennen aus Brünn für das Fernsehen. Mitten im Hauptrennen kollabierte der klapprige Stuhl unter seinem beträchtlichen Gewicht. Auf dem Boden liegend, von den Resten des Stuhls umgeben, unterbrach er seinen Kommentar nicht für eine Sekunde.
Carters Erinnerungen mögen rosa gefärbt, in Säure getaucht oder auf ihn maßgeschneidert sein, aber der Tenor des Buches ist die Tatsache, wie sehr sich der Rennsport veränderte. Das Buch berichtet von vergnüglichen Barbecues, mitternächtlichen Kartenspielen, Trinkgelagen und gegenseitigem Vertrauen und Beistand zwischen den Rivalen auf der Strecke.
Das ist eine Million Meilen von der heutigen Atmosphäre im Paddock entfernt. Könnt Ihr euch Lorenzo und Rossi zusammen bei einem freundschaftlichen Essen vorstellen, das nicht in massivem gegenseitigen Anschmollen endet? Oder ein gemeinsames Kartenspiel? Oder wenn Márquez eine Autopanne auf dem Weg zum nächsten Rennen hätte, würden sie anhalten, um ihn und sein Bike mitzunehmen?
Die alte Kameradschaft überlebte die Ankunft des großen Geldes mit Lucky Strike, Marlboro und Rothmans, aber unterlag bald der Flut von marktorientierten PR-Initiativen, die den Sponsoren von cleveren Männern verkauft wurden.
Die Beerdigungshymne war das Hintergrundrauschen der automatisch öffnenden Türen in den klimatisierten Sponsor-Hospitalties. Abgeschottet von der Außenwelt konnte beispielsweise Kevin Schwatz nicht länger Brotkügelchen auf Wayne Gardner werfen, wenn dieser vorbeiging.
Es gibt ein paar herausstechende Ausnahmen – Jack Miller und Cal Crutchlow kommen einem in den Sinn, und unerwartet entwickelte sich Dani Pedrosa nach seiner mürrischen Jugend zu einem Mann mit trockenem Humor. Während des Rossi-Márquez-Gezankes zeigte sich der sportliche Gentleman in ihm.
Die meisten Fahrer sind, wenn sie die Spitze erreichen, so fokussiert, dass sie nur wenig Zeit für menschliche Kontakte haben. Jegliche Menschenliebe ist ein Schauspiel für die Kameras: Rossi ist darin der größte Experte.
Hätten wir es gerne anders? Und ist es wirklich so anders als in den alten Tagen?