Formel 1 in Saudi-Arabien: Vision 2030, Realität 2021

Von Mathias Brunner
Wer zum ersten Grand Prix in Saudi-Arabien reist, braucht vor allem eines – Geduld. Welche Überraschungen auf den Reisenden warten, welche Ziele das Land verfolgt, was Vision ist und was Realität.

Es ist nicht ganz einfach, nach Saudi-Arabien zu gelangen. Das Land steckt in Sachen Tourismus nicht in den Kinderschuhen, es ist gewissermassen eben geboren – die ersten Touristen-Visa wurden im September 2019 ausgestellt, dann kam Corona und das Neugeborene verstummte für eine ganze Weile.

Das Formel-1-Rennen vom 5. Dezember 2021 soll die Bestrebungen des Landes in die Auslage stellen, den Anschluss an die moderne Welt zu schaffen, vor dem Hintergrund traditioneller Werte. Von den Glitzerwelten Dubai, Abu Dhabi oder Doha ist Saudi-Arabien sehr weit entfernt.

Dschidda (Englisch Jeddah) am Roten Meer, also an der Westküste des Landes, ist eine Stadt, welche den meisten Lesern nicht viel sagen dürfte – aber hier leben mehr Menschen als in Hamburg, München und Köln zusammen, weit über vier Millionen.

Dschidda gilt als Tor nach Mekka, dem religiösen Zentrum des Islam, und wurde vor 2500 Jahren gegründet, die natürliche Lage an einer Bucht war für Fischer wie gemacht.

Wieso Dschidda? Zum einen steht dieses Wort für «Seeküste» (naheliegend), zum zweiten für «Grossmutter», weil hier angeblich das Grab von Eva liegt (die mutmassliche Grabstätte wurde 1975 zugeschüttet), zum dritten hiess ein Stammesführer Jiddah bin Jarm bin Rayyan bin Helwan bin Ali bin Issac bin Qued’ah.

Jeddah gilt innerhalb von Saudi-Arabien als fortschrittlich, und als Prunkstück – neben der reichen Tradition – gilt die Corniche, die Küstenstrasse, an welcher die Formel-1-Strecke aus dem Boden gestampft worden ist.

Aber so weit sind wir noch nicht ganz. Denn es ist, Öffnung hin oder her, nicht ganz einfach, nach Dschidda zu kommen; die Vorbereitung ist nur unwesentlich leichter, als den derzeitigen Schachweltmeister zu schlagen.

Ein Beispiel: Alleine die Buchung des Medienhotels nahm einen Schriftverkehr in Anspruch, welcher in zahlreiche Umfahrungen, Sackgassen und Staus mündete. Ein Bezahlportal funktionierte nicht. Dann klappte es mit dem Aufschalten, war aber nur in Arabisch zu lesen. Ich bedaure, aber trotz Bahrain, Abu Dhabi und zuletzt Doha ist mein Arabisch nicht massiv besser geworden. Letztlich gaben die Betreiber auf und baten, die Zeche via Banktransfer zu begleichen. Es folgte die Ermahnung, auch ja zu zahlen, andernfalls man ohne Zimmer dastehen werde.

Um überhaupt in die Nähe des Landes zu kommen, mussten wir uns für ein Visum bewerben. Es fing harmlos an: Name, Publikation, Nationalität, Reisepassnummer, Geschlecht, Handynummer, Einreisedatum, Ausgangsflughafen, Flugnummer, Ankunftszeit, dann natürlich Details zu den beiden Impfdosen – denn ohne Piks geht hier gar nichts. Das alles in ein Formular gefüllt, dazu Foto des Passes, Foto vom Antragsteller beigelegt und elektronisch eingereicht.

Das Datenpaket ging ans Ministerium für Sport, das kurz darauf grünes Licht gab und ein eVisa ausstellte. Runde frei für die nächsten Hürden.

PCR-Test, nicht älter als 72 Stunden: Gut, das kennen wir inzwischen von Flugreisen und ist keine grosse Sache mehr.

Herunterladen der Tawakkalna App: Hier werden die Gesundheitsdaten samt Impfung hinterlegt, ohne diese App werden die Reisenden im Land vor allem eines sehen – ihr Hotelzimmer. Die Applikation kann aber erst nach Einreise aktiviert werden.

Ausfüllen eines Erklärungsformulars zur eigenen Gesundheit.

eVisa.

Registrierung auf der Mugeem-Plattform, auf welcher alle Details zum Impfstatus hinterlegt werden (als hätten wir das nicht schon geschickt, aber gut).

Herunterladen der Saudi Bio Bubble App: Hier werden die Ergebnisse der regelmässigen Corona-Tests hinterlegt. Sie kann nur mit Benutzer und Password individualisiert werden, wenn schon ein eVisa vorliegt und ist unerlässlich, um aufs Gelände des Jeddah Corniche Circuit zu kommen.

Kurze Zwischenfrage: Was macht heute eigentlich ein Mensch, der kein Handy besitzt?

Endlich im Flugzeug

Der Flug von Dubai nach Dschidda verläuft reibungslos. Abgesehen davon, dass einige meiner Nachbarn die Maske am Kinn tragen oder am Ellenbogen. Ich schätze, sie wollen sich vor einem unerwarteten Kinnhaken schützen oder leiden an einem Tennis-Arm. Der Passagier zur Linken trägt neben der Maske auch seine Schuhe nur ungern und zieht sie, kaum an Bord, sofort aus. Der Wunsch nach einer Käseplatte regt sich in mir.

Wir fliegen über Mekka. Einige Passagiere beginnen zu beten. Für alle Anderen wird ein Gebet über die Bordlautsprecher verlesen. Die Übersetzung erhalten wir per Englisch auf den Schirm.

Wir landen auf dem König Abdul Aziz International Airport. 2019 wurde dieser Terminal 1 eröffnet, auf einer Fläche von 114 Fussballfeldern. Der Vorzeige-Flughafen hat mehr als vier Milliarden US-Dollar gekostet.

Nach der Ankunft werden wir vom Fachpersonal des Veranstalters begrüsst. Die Dame spricht zu meiner Verblüffung Deutsch: «Ich war ein Jahr lang in Köln tätig.» Respekt! Ich bezweifle, dass ich nach einem Jahr in Dschidda so gut Arabisch sprechen würde.

«Wir hatten am Sonntag ungefähr 100 Leute aus dem Rennsport, die angekommen bin, heute Montag sind es 500, am Dienstag werden es 2000 sein», zwitschert sie fröhlich. Und das ist jetzt ohne Hauch von Ironie zu verstehen, denn die ganzen Helfer sind samt und sonders überaus freundlich und hilfsbereit. Wir sind in guten Händen, aber die Hände wechseln schnell – bis wir im Hotel sind, hatten wir mit ungefähr zwanzig verschiedenen Damen und Herren zu tun.

Erster Posten: Check des mitgebrachten PCR-Tests, das gibt einen Kleber mit einem grünen Haken. Das passt nicht nur als internationales Okay-Zeichen: Grün ist die Farbe des Islams, genauer: die Farbe Mohammeds.

Zweiter Posten: Check des PCR-Tests und des grünen Hakens und des Reisepasses. Nein, wir sind noch nicht bei der Immigration angelangt, es geht nur um Posten 3.

Dritter Posten also: Es werden zwei Abstriche genommen, einer im Rachenraum («Sagen Sie Aaaaaaaaaa»), einer, gefühlt, im hinteren Bereich des Grosshirns («Versuchen Sie, an nichts zu denken»).

Vierter Posten: Check der Saudi Bio Bubble App. Zur Belohnung gibt es eine Rose in Zellophan (nein, wirklich).

Fünfter Posten: Die offizielle Einreise. Mit Studium des PCR-Tests und des eVisa und obigen Hakens. Meine Frage, wer das Mugeem-Formular sehen wolle, ruft milde Verwirrung hervor. Auch die Selbsteinschätzung in Sachen Gesundheit interessiert niemanden. Die Einreise-Fachkraft möchte lieber ein Foto von mir machen, ohne Maske und ohne Brille, bitteschön. Im Gegensatz zu anderen Einreisebeamten gehört diese Fachkraft tatsächlich der Spezies Mensch an: «Sie müssen nicht ernst gucken fürs Foto.»

Sechster Posten: Koffer holen (schon da) und zu einem Info-Schalter des Veranstalters gehen, um sich einzutragen. Die Fachkräfte dort haben das komplette Personal aus Formel 2 und Formel 2 aufgelistet, die auf grossen Listen mit sehr kleinen Buchstaben aufgeführt werden. Ich tauche auf Papier ebenso auf wie im Computer, danach wird die Tawakkalna App auf Vordermann gebracht. Schliesslich gelte ich als qualifiziert, ins Hotel gebracht zu werden.

Im Ankunftsbereich steht ein Modell eines 2022er Formel-1-Rennwagens, in den Landesfarben von Saudi-Arabien. Auf dem Frontflügel das Motto des ersten Grand Prix in Saudi-Arabien: Overtake the Future – überhol die Zukunft.

Als netter Hintergrund des Boliden: das grösste Aquarium in einem Flughafen weltweit, mit einer Million Liter Wasser und 2000 Fischen Inhalt. Der 14 Meter hohe Tank mit 10 Metern Durchmesser zeigt eine Korallen-Landschaft aus dem Roten Meer, samt Haien.

Wir streben dem Ausgang zu. Ach halt, ich wollte ja noch Geld wechseln! «Money change?» fragt mein Begleiter. Da muss er jemanden zu Hilfe rufen. Der ruft einen Dritten an. Ein längeres Gespräch entsteht, bei welchem klar wird, dass der exakte Ort einer Wechselstube an diesem Flughafen zunächst etwas undurchsichtig ist (Merke: kein Geld im Hotel wechseln, die bieten lausige Kurse).

Es stellt sich heraus: Wir müssen von der Ankunftshalle in den Abflugbereich. Eine der Hilfskraft sagt: «Sie können Koffer und Aktenkoffer ruhig hier stehen lassen.» Äh, nein, das wohl eher nicht, an diesem Punkt endet mein Vertrauen dann doch.

Nach dem Wechsel von US-Dollar in Saudi-Riyal (auf den Noten ein Bildnis von Salman ibn Abd al-Aziz Al Saud, König seit 2015) geht es mit einem klapprigen Hyundai Richtung Medien-Hotel.

Das Strassenbild ist eher trist: viel Abfall liegt herum, schlechter Zustand von schmutzigen Strassen und Gehwegen und Gebäuden, welche ihrem Verfall entgegendämmern. Die Verkehrsteilnehmer erweisen sich als spontane Spurwechsler und freudige Benutzer ihrer Hupe, was unter Anderem an vielen Fahrern liegt, welche sich eher für ihren Status auf sozialen Netzwerken zu interessieren scheinen als fürs Geschehen auf der Strasse. Vier Fast-Unfälle später kommen wir im Qamar an, das als Medien-Hotel dient, neu, sauber, tadellos, mit sehr höflichem Personal.

Gemäss Angaben des Veranstalters befinde ich mich in Isolation, bis das Ergebnis des PCR-Tests vorliegt. Drei Stunden später liegt das Ergebnis bereits vor und ist automatisch in der Tawakkalna App sowie in der Bio Bubble App hinterlegt worden.

Damit steht meinem Besuch im Hotel-Restaurant nichts mehr im Weg, wo ich dann – wie im Flugzeug – zwischen sieben verschiedenen Fruchtsäften entscheiden darf. Wer in Saudi-Arabien Alkohol konsumiert, kann mindestens mit Auspeitschen rechnen. Dann vielleicht doch lieber ein Gläschen Orangensaft oder eine Pepsi.

Morgen geht es erstmals zum Jeddah Corniche Circuit, mit dem Formel-1-Sport als wichtiger Teil der Vision 2030.

Die Vision 2030 des Königsreichs Saudi-Arabien ist ein strategisches Ziel, um die Abhängigkeit des Landes von der Ölförderung zu verringern, die Wirtschaft breiter aufzustellen und in den Bereichen Gesundheitswesen, Bildung, Infrastruktur und Erholung Gas zu geben – und eben beim Tourismus.

Saudi-Arabien will bis 2030 pro Jahr 55 Millionen Ausländer ins Land locken, vor allem aus Asien und Europa, der Tourismus soll eine Million zusätzlicher Jobs erzeugen.

Ein Vergleich: Im Jahr 2019 reisten – vor Corona – 16,7 Millionen Menschen in die Vereinigten Arabischen Emirate (mit den attraktiven Zielen Dubai und Abu Dhabi).

Wie realistisch das Ziel der Saudis ist, kann jeder für sich selber entscheiden.

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