MotoGP: KTM angelt Topraks Crew-Chief

Ist die Motorradproduktion in Europa (nicht) tot?

Von Bernhard M. Höhne
Der künftige starke Mann bei KTM, Rajiv Bajaj, ließ mit einer kontroversen Aussage zur Motorradfertigung in Europa aufhorchen. Was zur Frage führt: Wohin steuert die europäische Motorrad-Industrie?

«Die Motorradproduktion in Europa ist tot!» - diese Aussage wurde vor einigen Wochen weit entfernt im indischen Fernsehen getätigt und in unseren Breiten hätte sich im Normalfall vermutlich kaum jemand darum geschert. Die Worte kamen aber von Rajiv Bajaj und damit bekamen sie Gewicht, schließlich ist der indische Industriemagnat seit Ende Mai inoffiziell und, wenn alles nach Plan läuft, ab kommendem Jahr auch offiziell, der starke Mann bei KTM.

Rajiv Bajaj steht Bajaj Automotive vor, dem hisherigen Minderheitseigentümer von KTM, und wird in Zukunft dortselbst Mehrheitseigentümer von KTM. Bajaj ist seit 2007 Partner von KTM und produziert seit 2011 die Einstiegsbaureihen der Österreicher von 125 bis 390 ccm. Jetzt, wo der indische Familienunternehmer durch die KTM-Finanzierung seinen Einfluss im Unternehmen ausgebaut hat, geht in Österreich die Angst um, dass die Produktion aus Mattighofen nach Indien verlagert wird. Es stellt sich also die Frage: Wie realistisch ist dieses Szenario? Und was bedeutet Bajajs Aussage für die Motorradindustrie allgemein?

Die Antwort auf die erste Frage klingt von Seiten der Österreicher eindeutig: «Es sind keine Produktionsverlagerungen geplant.» Was eindeutig klingt, ist es auf den zweiten Blick jedoch nicht. Schließlich müssen, präzise gesprochen, keine Verlagerungen stattfinden, um den Anteil ausländischer Fertigung am Produktionsvolumen zu erhöhen.

Beispielsweise wurde KTMs Mittelklassemodell 790 Duke, kurze Zeit nachdem sie durch die 890 Duke ersetzt wurde, neu eingeführt - diesmal jedoch aus chinesischer Produktion. Der Vorteil für den Kunden: Das Naked Bike ist preisgünstiger zu haben. Gleiches galt kurze Zeit später für die 790 Adventure. Der Belegschaft am Standort in Mattighofen ist schlussendlich kein Arbeitsvolumen verloren gegangen, schließlich wurde die 890er-Baureihe später ebenso in Mattighofen produziert wie die darauf folgende 990 Duke.

Ex-KTM-CEO Stefan Pierer kündigte bereits im Jahr 2022 in einem Interview mit Motorradjournalist Alan Cathcart an, dass preissensitive Zweizylinder-Modelle künftig von Kooperationspartner CFMoto in China gefertigt würden. Premium-Fahrzeuge würden jedoch weiterhin in Mattighofen gefertigt - also auch die Reihentwin-Modelle der 990er-Baureihe.

Derzeit deutet vieles darauf hin, dass diese Aussagen nach wie vor Bestand haben. Nach aktuellen Beobachtungen vor Ort scheinen die Österreicher ergänzend gleich zwei zusätzliche Mittelklasse-Baureihen zu planen. Nach älteren Aussagen des Ex-CEOs wurde eine davon mit den künftigen Eigentümern aus Indien geplant, eine basiert offenbar auf einer technischen Plattform des chinesischen Partners. Der Schluss liegt nahe, dass diese Modelle auch bei den jeweiligen Partnern vor Ort gefertigt werden.

Mit diesem Vorgehen bleibt die Produktion aktueller Modelle in Österreich. Die beiden neuen Baureihen, Ergänzungen zum bestehenden Modellprogramm in preissensibleren Segmenten, werden jedoch in Asien gefertigt, während die aktuellen und künftigen Topmodelle zumindest zunächst weiterhin in Ösaterreich gebaut werden.

Damit steht KTM keineswegs allein: Die Produktion preissensibler Modelle in Asien hat Schule gemacht, kaum ein relevanter Hersteller verzichtet darauf. Der Schwerpunkt liegt dabei häufig auf Modellen der unteren Hubraumklasse, die für die Marken in Asien schon jetzt unverzichtbar sind und in westlichen Märkten in absehbarer Zeit unverzichtbar werden.

BMW lässt die aktuelle G310- und künftige F450-Baureihe, ebenso wie den Roller CE-02, in Indien vom Partner TVS fertigen. TVS wird, wenn man indischen Medienberichten glaubt, künftig auch Einstiegsmodelle für seine Tochterfirma Norton produzieren. Aprilia baut seine 457er Baureihe im indischen Baramati, einer Fertigungsstätte von Konzernmutter Piaggio. Rund 18.000 Einheiten sollen dort schätzungsweise jährlich vom Band laufen, das wären knapp 70% der jährlichen Gesamtstückzahl der Italiener. Selbst Moto Guzzi dürfte mittelfristig in Baramati ein Einstiegsmodell fertigen.

Allerdings ist die Produktion europäischer Motorräder in Asien nicht nur auf das Einstiegssegment beschränkt, und KTM war mit seiner Fertigung der 790er-Baureihe keineswegs Vorreiter: Schon seit 2007 unterhält BMW eine Partnerschaft mit Loncin. Die Chinesen fertigen die Motoren der F800- und F900-Modelle für die Bayern, ebenso wie zuletzt die C400-Scooter.

Ducati betreibt seit Jahren ein Werk im thailändischen Rayong, das zunächst bis zu 10.000 Motorräder fertigte. Nach einer Modernisierung ist die Fertigungsstätte inzwischen für die Produktion von 20.000 Einheiten ausgelegt. Zum Vergleich: Im Jahr 2024 brachten die Italiener weltweit rund 60.000 Motorräder zu den Kunden. Welche Modelle die Fertigungsstätte in welchen Stückzahlen wohin liefert, dazu gibt es keine offiziellen Zahlen.

Die Bologneser Marke betont, dass das thailändische Werk vor allem für die Belieferung des asiatischen Marktes zuständig sei.
Ebenfalls in Thailand fertigt Triumph. Zeitgleich mit Ausbruch der Covid-19-Pandemie gaben die Briten bekannt, dass künftig nahezu alle Modelle im markeneigenen Werk in Chonburi produziert werden sollen. Ausgenommen werden sollten nur die hochwertg ausgestatteten Kleinserien mit dem Kürzel TFC.

Bereits zuvor fertigten die Engländer nur noch rund 10 % der Jahresproduktion von rund 65.000 Fahrzeugen im Stammwerk in Hinckley. Die weitere Verlagerung wurde begründet mit dem wachsenden Stellenwert der asiatischen Märkte. Im Gegenzug sollten die Entwicklungskapazitäten am Stammsitz ausgebaut werden.

Kaum mehr als zwei Jahre später kam der Rückzieher: Seither laufen zumindest die Topmodelle Speed Triple und Tiger 1200 wieder im Stammwerk im englischen Hinckley vom Band. Das britische Werk bietet eine Maximalkapazität von rund 20.000 Einheiten. Skurrilerweise findet die Fertigung in Hinckley jedoch im CKD-Verfahren statt. Das heißt, vor Ort wird nur endmontiert - und zwar Baugruppen, die vom thailändischen Standort aus angeliefert werden. Die inzwischen eingeführte 400er-Baureihe, die aus dem Stand zur weltweit wichtigsten Baureihe der Briten wurde, wird wiederum komplett in Asien gefertigt: In Indien - passenderweise im selben Bajaj-Werk, in dem auch KTM seine Einstiegs-Einzylindermodelle bauen lässt.

Allen diesen europäischen Marken gemein ist, dass sie ihre Topmodelle in ihrem Stammwerk fertigen. Im Ducati-Werk in Borgo Panigale, das hört man auf allen Ebenen, ist man sich sicher, dass die Fertigung am Stammwerk unverzichtbar ist für das Image der Marke. Eine Parallele, die sich größtenteils auch zu anderen europäischen Spitzenherstellern wie BMW, KTM und MV Agusta ziehen lässt. Ducati legt Wert auf die Feststellung, dass in Asien ausschließlich für den lokalen Markt gefertigt wird, auch um Zollschranken zu begegnen. Gleichzeitig gilt die lokale Zulieferindustrie in Asien als nicht gerüstet für die technisch aufwändigen Topmodelle der Bologneser. Ähnliches dürfte auch für die restlichen genannten europäischen Hersteller gelten.

Gleichzeitig haben die Hersteller auf den asiatischen Märkten andere Herausforderungen zu bewältigen als in Europa und Nordamerika. Zum einen sind die Ansprüche in den meisten asiatischen Ländern andere. Die Zweizylindermodelle mit knapp unter 500 ccm Hubraum, die derzeit mehrere europäische Marken lancieren, gelten in Asien an vielen Stellen bereits als Luxusmodelle.

Die technisch höchst aufwändigen Topmodelle der hiesigen Modellpaletten, Ducati Panigale V4, KTM 1390 Super Duke R oder BMW R1300GS, finden dort im Vergleich nur wenige Käufer. Dafür ist der Stückzahlbedarf der Volumenmodelle, die in den fernöstlichen Märkten vor Ort benötigt werden, ungleich höher: Indien und China machen derzeit gemeinsam rund 80% des Weltmarktes für Zweiräder aus. Rajiv Bajaj unterscheidet im zitierten Interview entsprechend auch zwischen den Volumenherstellern für den asiatischen Markt, wie Honda, Yamaha, Hero und eben Bajaj, und zwischen den Premiumherstellern wie Ducati, BMW und KTM.

Erstere spielen im Vergleich in einer eigenen Liga, was Produktionsvolumen angeht. Bajaj spricht davon, dass der asiatische Volumenmarkt, in dem er seine Stammmarke sieht, einen Umfang von 50 Millionen möglichen Verkäufen umfasst. Der technisch aufwändigere Spitzenmotorradmarkt, in dem er neben KTM unter anderem auch BMW und Ducati als Wettbewerber sieht, umfasse in Summe lediglich 800.000 bis 1 Million Kunden jährlich. Im Klartext schätzt Bajaj den asiatischen Volumenmarkt als 50 mal grösser ein.

Die Stückzahlen, die die europäischen Hersteller insgesamt fertigen, sind entsprechend geringer. Aus der Perspektive von Rajiv Bajaj ist der Premium-Motorradmarkt eine vergleichsweise kleine Nische und in Relation zu den Volumina asiatischer Hersteller ist sie dies schon seit Jahrzehnten. Die Analyse, die europäische Motorradproduktion sei tot, trifft also auf die Massenproduktion im asiatischen Maßstab schon lange zu.

Bei der Fertigung technologisch hochspezialisierter Spitzenprodukte haben europäische Standorte jedoch, und das gilt derzeit für alle europäischen Hersteller, noch immer signifikanten Vorsprung.

Doch es wird für die europäischen Premium-Marken zunehmend schwieriger, diesen Vorsprung zu konservieren. Allein in den letzten Wochen gab es diverse Beispiele, in denen sich chinesische und indische Hersteller durch Entwicklungsaufträge und Zukäufe europäisches Know-How im großen Maßstab aneigneten. Souo ließ essentielle Teile seines Achtzylinder-Boxermotors bei Bosch in Abstatt/D abstimmen, während TVS, auch für die britische Tochter Norton, einen renommierten Ingenieursdienstleister in der Emilia-Romagna (Italien) aufgekauft hat, um diesen als «Center of Excellence» für künftige Produkte zu nutzen.

Und nicht zuletzt Bajaj selbst, dessen geplante Übernahme von KTM einen Gewinn an Mattighofener Entwicklungsexpertise im Spitzensegment bedeutet. «Produktgüte ist in diesem Markt wichtiger als Stückzahl» ist eine der Aussagen Rajiv Bajajs, welche diese These stützt.

Dies bedeutet für die Mattighofener ein Alleinstellungsmerkmal im Bajaj-Imperium. Die Schlussfolgerung für die europäischen Marken im Allgemeinen, und in diesem Fall für KTM im Besonderen, muss sein, den eigenen Vorsprung auszubauen. Nicht über Stückzahlen, sondern über Know-how und qualitativ hochwertige Fertigung.

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