KTM: Im Werk gingen die Lichter aus

Stefan Bradl: «Marc Márquez gibt die Richtung vor»

Von Günther Wiesinger
Honda-Testfahrer Stefan Bradl spricht über die langsame Entwicklung und sagt über Marc Márquez: «Unsere Aussagen sind komplett identisch.» Er nennt die Vorteile der Europäer und bezeichnet die Japaner als konservativ.

Die diesjährige Werks-Honda RC213V stellt die Piloten immer wieder vor fast unlösbare Probleme. Eines davon sind die vielen Stürze übers Vorderrad. In Jerez stürzten zum Beispiel gleich beide Repsol-Honda-Piloten Marc Márquez und Pol Espargaró sowie Wildcard-Fahrer Stefan Bradl im FP3 übers Vorderrad.

«In dieser Zweite-Gang-Kurve ist mir schon sehr früh das Vorderrad weggerutscht. Völlig ohne Vorwarnung, das ist momentan unser Problem», stellte der siebenfache GP-Sieger Stefan Bradl damals fest. «Es gibt keine Warnung am Vorderrad. Dann macht es auf einmal ‘patsch’ – und du liegst da!»

«Diese Vorderradrutscher sind unser allgemeines Problem bei Honda. Bisher wissen wir nicht genau, wie wir dieses Problem in den Griff kriegen», grübelt der Bayer. «Wir können nur weiterarbeiten und probieren, wie wir die Situation verbessern können.»

Manchmal erreichen die Honda-Piloten nicht einmal die Vorjahreszeiten. In Jerez fuhr Bradl in diesem Jahr im FP3 1:38,013 min, im Vorjahr schaffte er eine Zeit von 1:37,0 min. Bradl: «Da fehlt eine Sekunde; das ist zu viel. Es ist zäh.»

Der Honda-Testfahrer musste sich in den letzten Monaten von manchen Laien vorwerfen lassen, er habe als Testfahrer versagt, weil er bei der Weiterentwicklung keine Fortschritte erzielt wurden.

Stefan, was antwortest du den sogenannten Experten, die dich für das Honda-Desaster von 2022 verantwortlich machen?

Es ist aktuell für ein japanisches Werk nicht so einfach, alles schnell genug zu entwickeln und dementsprechend auf neue Erfordernisse zu reagieren.

Bei den Japanern ist es das oberste Gebot, dass nichts an die Rennstrecke gebracht wird, was nicht ordentlich erprobt worden ist. Es darf nichts passieren.

In dieser Hinsicht sind die Japaner vielleicht ein bisschen konservativer. Sie sind nicht so frech wie vielleicht Ducati, Aprilia oder KTM. Sie trauen sich nicht, grobe Veränderungen zu probieren.

Außerdem ist Japan durch die Corona-Situation immer noch zurückhaltender und eingeschränkter als die Europäer.

Ich weiß als Testfahrer auch, dass wir momentan nicht so in der Spur sind, wie wir es eigentlich vorgehabt haben.

Wie gesagt: Die MotoGP-WM ist eine komplexe Angelegenheit, mit all den Devices, der Elektronik und der Aerodynamik.

Meine Aussagen sind deckungsgleich mit dem Input der Stammfahrer. Aber es liegt dann auch an der Firma, die richtigen Dinge zu identifizieren und den Fahrern zuzuhorchen.

Als Testfahrer bist du ein Fahrer wie alle andern. Man muss immer einen passenden Kompromiss finden.

Die Entwicklungsrichtung wurde jahrelang von Marc Márquez vorgegeben. Aber in den letzten zwei Jahren hat er mehr Grand Prix verpasst als bestritten. Deshalb herrscht Ratlosigkeit?

Ja, sicher, die Entwicklungsrichtung gibt immer der Leader vor. Das ist in all den Jahren immer der Marc gewesen.

Also muss man ein bisschen verstehen, was Marc gern hat und was er gern macht.

Es gibt viele Aspekte, die dann zusammenpassen müssen.

Heute bekommen die Fahrer nicht mehr so viel Gehör wie früher. Die Datenaufzeichnungen decken viel auf. So bekommen die Ingenieure Anhaltspunkte für die Steifigkeit des Chassis, die Fahrwerksgeometrie, die Balance und so weiter.

Die Datenaufzeichnungen und die ganzen Analysen sind eine Hilfe. Was da alles an Daten vorliegt, ist fast brutal.

Du sprichst dann mit deinen Technikern und Ingenieuren und erzählst ihnen, was du beim Fahren fühlst. Nachher schauen sie auf die Daten, und manchmal liefert der Computer andere Erkenntnisse als der Fahrer.

Die Ingenieure vertrauen dann eher dem Computer als dem Testfahrer?

Manchmal meinen die Techniker, sie kennen die Lösungswege besser, weil sie es aus dem Computer rauslesen.

Dazu wird viel Zeit im Windkanal verbracht, ohne Fahrer.

Ja, diese Geschichte ist super komplex.

Die MotoGP mit der gegenwärtigen Fahrdynamik, mit dem Absenken des Hecks und dem riesigen Einfluss der aerodynamischen Maßnahmen, das alles beeinflusst das Fahrverhalten extrem. Das ist Wahnsinn.

Marc Márquez hat schon vor zwei, drei Jahren festgestellt: Seit Bradl Testfahrer bei HRC ist, kommt kein neues Teil an die Strecke, das nicht besser ist als das alte.

Ich war auch nach dem letzten Jerez-Test im Juli mit Marc wieder in Kontakt. Er hat sich dafür interessiert, was es Neues gibt. Ich habe ihn auf dem Laufenden gehalten.

Wir sind immer zu 100 Prozent einer Meinung. Unsere Aussagen sind komplett identisch, wir arbeiten zusammen in die gleiche Richtung.

Pol Espargaró arbeitet aber in eine andere Richtung? Marc will mehr Gefühl fürs Vorderrad, Pol will mehr Grip am Hinterrad?

Wie soll ich das sagen? Pol schwenkt oft um.

Marc weiß schon, was er braucht. Aber ab und zu ist auch er unschlüssig.

Du hast da als Fahrer und Leader eine Riesenverantwortung. Du hast 30 Techniker vor dir sitzen, und wenn du ihnen etwas Falsches erzählst, kann die Entwicklung in die falsche Richtung gehen.

Deshalb kannst du dein persönliches Gefühl nicht immer zu 100 Prozent wiedergeben.

Ich muss dazusagen, dass es für die europäischen Hersteller ein großer Vorteil ist, dass sie mit ihren Piloten in der Landessprache kommunizieren können. Die Techniker von Ducati und Aprilia können mit den Fahrern Italienisch reden. Das ist ein unglaublicher Vorteil.

Dadurch gibt es extrem wenig Missverständnisse.

Mit den Japanern ist die Kommunikation nicht immer so einfach. Und für Fahrer ist es nicht ganz einfach, ihre exakten Gefühle in einer Fremdsprache zu vermitteln.

Die ganzen spanischen Fahrer bei Ducati und Aprilia sprechen ja alle ausgezeichnet Italienisch.

Aber Honda hat mit Marc Márquez in sieben Jahren sechs WM-Titel gewonnen. Da hat man die Kommunikation nicht als Ausrede gebraucht.

Japan hinkt bei den Öffnungsschritten nach Corona hinter Europa nach. Die Japaner haben eine andere Kultur und andere Ansichten. Sie sind von Corona stärker betroffen worden als viele andere Länder.

Aber beim letzten Jerez-Test hast du erste Fortschritte festgestellt?

Wir haben angefangen zu verstehen, warum wir bisher so schwach waren. Bei diesem Test in Jerez haben wir einen Anfang gemacht. Wir verstehen jetzt zumindest, wo wir den Hebel ansetzen müssen. Bis eine Lösung gefunden wird, wird es einige Zeit dauern. Das wird nicht im Handumdrehen gehen. Unser Problem wird nicht bis zum nächsten Grand Prix und auch nicht in den nächsten zwei Monaten gelöst werden.

Aber wir wissen langsam, woran es fehlt. Es sind gravierende Teile im Chassis-Bereich, die verändert werden müssen. Aber es ist machbar. Ich glaube, dass wir in dieser Saison noch Updates sehen werden. Es wird mit Sicherheit etwas auf die Strecke kommen, was zu einer deutlichen Veränderung führen wird. Wann das passieren wird, kann ich nicht sagen, denn das liegt nicht in meiner Hand. Aber wir sind den Problemen vor allem bei diesem Test näher auf die Schliche gekommen.

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