Jürgen Lingg: Ist Tulovic für die WM zu euphorisch?
Der 22-jährige Lukas Tulovic hat für das Liqui-Moly-Junior-Team die Moto2-Europameisterschaft 2022 in eindrucksvoller Manier gewonnen. Der Eberbacher hat sieben der elf Rennen für sich entschieden und dazu vier zweit Plätze erkämpft. Der EM-Zweite Senna Agius aus Australien landete 72 Punkte hinter den Titelgewinner. In der kommenden Saison verstärkt Tulovic das neue Husqvarna Factory Team des Rennstalls aus Memmingen.
Der 185 Zentimeter große Tulovic ist bereits mit 15 Jahren in die CEV Repsol-Moto2-Meisterschaft eingestiegen und hat mit 17 Jahren bei Kiefer Racing beim Jerez-GP 2018 als Ersatzfahrer für Domi Aegerter in der WM debütiert. 2019 absolvierte er bei Kiefer eine komplette Moto2-WM-Saison; doch der Deutsche punktete mit Platz 13 in Assen nur einmal und kam über den 29. WM-Rang nicht hinaus. Danach verlor Kiefer Racing den Moto2-WM-Platz.
Tulovic wechselte mangels seriöser Moto2-Angebote zu Tech3 in den MotoE-Weltcup und begann sogar eine Ausbildung zum Streifenpolizisten, weil seine Motorradkarriere ernsthaft gefährdet war.
Bei bisher 22 Moto2-WM-Rennen hat Tulovic nur die drei Punkte von der Dutch-TT 2019 eingesammelt. Doch bei seinem Besuch beim Valencia-GP gab er sich für 2023 sehr zuversichtlich. Er sprach von möglichen Podestplätzen und einem Platz unter den Top-Ten in der Gesamtwertung.
Der Kalex-Pilot schöpft diese Zuversicht aus der Tatsache, dass die beiden Moto2-EM-Ersten Fermin Aldeguer und Alonso Lopez in der WM 2022 für beachtliche Erfolge gesorgt haben.
Der 20-jährige Lopez kam erst im Mai in Le Mans (statt Romano Fenati) in die WM und gewann in Misano und Phillip Island überraschend zwei WM-Rennen für das Speed-up-Team von Luca Boscoscuro; er schloss die WM als großartiger Achter ab. Der erst 17-jährige Aldeguer sicherte sich als Rookie den 15. WM-Rang, bei den letzten drei Rennen landete er zweimal auf Platz 4.
Ob sich diese Ergebnisse wirklich auf die Chancen von Tulovic umrechnen lassen, bleibt abzuwarten. Denn Aldeguer war schon mit 16 Jahren Moto2-EM-Zweiter, Lopez hat bereits mit 17 Jahren einen Podestplatz in der Moto3-WM erzielt.
Die Moto2-EM-Bilanz des 22-jährigen Tulovic (geboren am 15. Juni 2000) hingegen sieht so aus:
2017: Rang 9
2018: Rang 8
2020: Rang 14
2021: Rang 3
2022: Europameister.
In der Vergangenheit ist nicht allen Europameistern eine glänzende WM-Karriere gelungen. Jesko Raffin (Titelgewinner 2014 und 2018), Edgar Pons (2015 und 2019) sowie Yari Montella (2020), Eric Granado (2017) und Steven Odendaal (2016) sind sogar längst wieder aus dem GP-Sport verschwunden.
Doch Lukas Tulovic, der für Tech3 2021 in Spielberg auch ein MotoE-Weltcup-Rennen gewonnen hat, hat sich in der Saison 2022 gegenüber 2021 deutlich gesteigert, seine Rundenzeiten können sich sehen lassen.
«Wir sehen uns am Anfang im ersten Drittel des Felds», kündigte der Europameister bei der Teamvorstellung am 25. November an. «Wichtig wird es sein, den Winter über hart zu arbeiten, damit wir beim Saisonstart in Portimão bereit sind und ich mich auf dem neuen Bike wohlfühle. Dann ist alles möglich.»
Jürgen Lingg, Teamprinzipal des Liqui-Moly-Moto2-Teams, hat Tulovic in der vergangenen Saison in der WM aufmerksam beobachtet. Im Interview mit SPEEDWEEK.com äußert sich Lingg zu den Aussichten den WM-Heimkehrers.
Jürgen, wie schätzt du die WM-Aussichten von Lukas Tulovic 2023 ein? Seine Prognosen hören sich etwas euphorisch an. «Dann ist alles möglich», lautete seine Ansage vor drei Wochen. Er vergleicht sich mit Aldeguer und Lopez. Zu Recht?
Du kannst dich eigentlich nie mit jemand vergleichen. Ich denke, Lukas hat in diesem Jahr einen guten Job gemacht. Er ist voll motiviert und voller Selbstvertrauen, denn es war wirklich gut, was er geleistet hat, nicht nur von den Resultaten her, sondern auch was die Performance selbst betrifft.
Seine Rundenzeiten waren richtig gut. Er hat auch unter Druck gut funktioniert, als es dann um die Meisterschaft gegangen ist. Aber ob er sich mit Lopez und Aldeguer vergleichen kann? Das würde ich jetzt nicht machen.
Lukas ist schnell und hat einen Riesenschritt gemacht. Aber er muss zuerst mal wieder in der WM ankommen. Ich bin mit meinen Prognosen eher ein bisschen vorsichtiger.
Ich denke, er wird ein guten Job machen. Gleichzeitig sollte er sich jetzt nicht selber so viel Druck aufbauen.
Wir gehen das in aller Ruhe an. Nach ein paar Rennen sehen wir, wo wir stehen. Ich denke, dass er gut in die Punkte fahren kann. Für alle anderen Prognosen ist es zu früh.
Man muss sich im Klaren sein: In der Moto2-EM ist alles ein bisschen familiärer; da ist die Luft nicht so rau wie in der WM. Es herrscht weniger Druck.
Dazu können sie bis vor den Rennen in den Trainings ganz viel fahren. Sie trainieren schon am Donnerstag dreimal, am Freitag folgen zwei Sessions, das sind schon mal fünf Mal 35 Minuten. Die EM-Piloten haben also viel «track time» und können sich in Ruhe auf die Rennen vorbereiten.
Und das alles ohne Druck und ohne groß in der Öffentlichkeit zu stehen. Das sind alles Umstände, die man berücksichtigen muss.
In dieser Moto2-Klasse, in der alle das gleiche Material haben, musst du einfach mental richtig gut drauf sein. Ich weiß nicht, wie gut Lukas mit diesem Druck umgehen kann.
Ich denke, er wird es im nächsten Jahr gut machen. Aber lass’ uns jetzt erst mal fahren. Dann schauen wir, wo wir stehen.
Ich würde mir vorläufig nicht so viel Druck machen.
Tulovic wurde 2021 von Aldeguer um 130 Punkte besiegt, von Lopez um 91. Sie sind aber 5 und 3 Jahre jünger.
Ja, aber er hat 2022 in der EM Agius und Escrig besiegt; die beiden sind schon schnell.
Aber in der Europameisterschaft hast du halt nur zwei, drei harte Gegner, in der WM sind es 28, die dir permanent ins Motorrad reinfahren.
Da geht es ein bisschen anders zu. Daran muss sich Lukas erst wieder anpassen.
Lukas hat 2022 echt Selbstvertrauen getankt und hat einen guten Speed.
Aber es gibt ein paar Faktoren, die wir jetzt noch nicht einschätzen können. Das müssen wir auf uns zukommen lassen und schauen, wie er das bewältigt.