Ich bin’s, der Schlafwandler
Nacht-GP in Katar: Es wird viel Staub aufgewirbelt
Bei uns in Österreich hält man viel von Bauernweisheiten. Sie gründen tief. Sogar eine mit Bezug auf nächtliche Motorradrennen ist mir zugetragen worden: «In der Finsternheit sieht man net so weit wia bei Tageslicht, wo ma weiter siacht…»
Der Scharfsinn blitzt aus dieser Weisheit: «Geht der Bauer durchs Zimmer, schlaft er nimmer.» Zu Katar passt: «Wenn's weder regnet, hagelt, schneit, dann herrscht im Lande Trockenheit.»
Zum letzten Wochenende passt: «Wenn's zu Ostern stürmt und schneit, ist das Frühjahr nimmer weit.»
Und: «Wer im Frühjahr einen hebt, hat den Winter überlebt.»
Sorry. Wir wollten uns eigentlich über den Nacht-GP in Katar unterhalten. Wie läuft's hier? Sagen wir – so ein Nacht-GP ist etwas gewöhnungsbedürftig.
Auf vier Tage ausgedehnt
Nur einmal im Jahr beginnt das Training bereits am Donnerstag. Als 2007 hier erstmals ein Grand Prix bei Flutlicht abgewickelt wurde, wurde nur Freitag und Samstag trainiert, also musste bis ca. 01.30 Uhr gefahren werden. Da war es dann kühl und feucht, Fahrer und Teams bekamen zu so später Stunde wenige Aufschlüsse für die Rennen. Ausserdem kamen die Mechaniker erst um 5 Uhr ins Bett, in den meisten Hotels gibt’s nur bis 10 Uhr Frühstück.
Deshalb wurde das Training auf den Donnerstag ausgedehnt. So wurde jetzt am ersten Tag von 18 Uhr bis 22.35 Uhr Ortszeit gefahren, am Freitag von 18 Uhr bis 21.40 Uhr – das ist wesentlich sozialverträglicher. Ich nahm mir vor, am Freitag (sorry, genau genommen war schon Samstag) um 01.00 Uhr aus dem Media Centre zu verduften und mich etwas früher aufs Ohr zu legen als am Donnerstag. Wer will schon um 3.00 Uhr im Fahrerlager rumgeistern? Es ist aber immer noch angenehm warm, als ich heute das Pressebüro um 02.00 Uhr verlasse. Nur der italienische Fotograf Gigi Soldano und sein Kollege Tino Martino harren länger aus. Unser Fotograf David Goldman (Eigentümer der Agentur Gold & Goose) ist gerade verhaftet worden; er hat zu nächtlicher Stunde übermütig auf dem riesigen Autoparkplatz mit qietschenden Reifen ein paar Pirouetten gedreht. Offenbar ein schweres Verbrechen.
Während jeder von uns bei den Rennen bei Tageslicht den Zeitplan im Kopf hat (Moto3 in der Früh ab 9 Uhr, am Samstag irgendwann ab 13.10 Uhr Qualifying, herrscht in Katar Blindflug.
Alles wird hier auf den Kopf gestellt. Man muss sich zwingen, nicht um 14 Uhr im Fahrerlager zu erscheinen, es wäre eh kein Fahrer da, alle bleiben bis 17 Uhr im Hotel, die befinden sich nur 20 Minuten entfernt, Rush Hour gibt’s keine. Zuschauer auf der Tribüne im Training – mit freiem Auge war keiner zu sehen.
Man verliert hier völlig die zeitliche Orientierung. Philipp Öttl sass gestern am Freitag 40 Minuten nach seinem Moto3-Training noch im Leder in der Box. Ich denke: Der zieht sich halt bis zum zweiten Moto3-Training nicht um. Er klärt mich auf: «Wir fahren heute gar nicht mehr.»
Oh, sorry, die zwei kleinen Klassen übten am Donnerstag zweimal, die MotoGP einmal, am Freitag ist es umgekehrt. Ich präge mir ein: Samstag Qualifying für die zwei kleinen Klassen und danach Warm-up. MotoGP heute Samstag: 4. Freies Training, dann Q1 und Q2. In Europa rührt sich danach kein GP-Motor mehr. Anders in der Wüste: Um 21.40 Uhr Ortszeit beginnen die Warm-Up-Trainings für Moto3 und Moto2.
Irgendwann um 21.40 Uhr ist es gestern verdächtig still geworden. Ich hörte keine Motorengeräusche mehr. Ah, jetzt ist Feierabend. Plötzlich wieder Motorenlärm, aber die Fotografen sitzen alle im Pressebüro? Es läuft das zweite Rennen zu katarischen Superbike-Meisterschaft!
Die Pause wird geopfert
Die in Europa übliche Mittagspause wird in Katar geopfert. Lieber eine Stunde früher ins Bett, heisst die Devise. Wann soll man also zwischen Mittagessen (14 Uhr) und Heimgehen (2 Uhr) eine kleine Verpflegung zu sich nehmen? Am Donnerstag spendiert das Dynavolt-Intact-Team zwischendurch ein Sandwich, am Freitag rettet mich Ducati mit einem Teller Pasta vor einem Hungerast.
Ich erlebe mein sechstes «Night Race», erstmals habe ich keine Printausgabe zu bedienen, dafür wird unser Internet-Portal SPEEDWEEK.com rund um die Uhr mit frischen Zitaten, Kolumnen und News beliefert. Inzwischen erlebe ich die Nachtfahrten der Fürsten der Dunkelheit mit mehr Gelassenheit.
Ich schlafwandle hinter den Boxen gezielt durchs Fahrerlager. Überall findet man auskunftsfreudige Gesprächspartner. Man notiert sich, wer in welcher Box haust, welcher Fahrer in welchem Office-Container zu finden ist. Ich stecke mir lokale Währung (sie heisst Ryal) ein, um mal hinter der Box einen vernünftigen Kaffee trinken zu können.
Wie gesagt: Um 02.00 Uhr packte ich letzte Nacht ein. Nein, ich komme mir nicht vor wie nach einer durchzechten Nacht. Durch die konzentrierte Arbeit macht sich keine Müdigkeit breit. Im Hotel lese ich um 3 Uhr noch ein bisschen in einem Radmagazin. Um 10 Uhr treffe ich Stefan Bradls Trainer Egon Gulich zum Frühstück. Stefan erscheint bestens ausgeschlafen um 11 Uhr.
So ein Nacht-GP hat auch seine Vorzüge. Man könnte jetzt fünf Stunden am Pool liegen. Aber es ist windig und bewölkt. Also sitze ich im 19. Stock mit Blick aufs Meer und verdiene meinen Lebensunterhalt. Das Wort Arbeit ist in diesem Zusammenhang unangebracht; das wäre eine glorifizierte Beschreibung meiner Tätigkeit.
Und ich bin dankbar, dass der Zeitplan hier inzwischen etwas menschlicher gestaltet wurde. Auch für den Sonntag. Im ersten Jahr habe ich das Media Centre erst am Montag um 06.35 Uhr verlassen.
Damals erkundigte ich mich bei meinem Kollegen Michael Scott, der gleichzeitig einpackte: «Michael, have you finished?» Seine schlagfertige Antwort damals: «I have finished – and I am finished.» Trappatoni würde sagen: «Ich habe fertig – und ich bin fertig.»
Ist es senile Bettflucht?
03.30 Uhr Licht abdrehen, 9 Uhr aufstehen. Alltag für mich in Katar. MotoGP-Rennbeginn am Sonntag um 22 Uhr Ortsteit, nachher Interviews bis 1 Uhr, schätze ich. Dann schreiben. Man mutiert zum Nachtmenschen. Eigentlich könnte ich am Montag vom Media Centre direkt zum Flughaben fahren.
Warum schläft man hier bis Sonntag nicht einfach bis Mittag durch? Das lässt die innere Uhr nicht zu. Oder senile Bettflucht in Reinkultur? Ist mein Biorhythmus gestört? Oder in der Wüste gar aus meinem Körper entwichen?
Zum Glück haben wir nicht 18 Nachtrennen. Eines reicht. Sonst würde ich womöglich ganzjährig in der New Yorker Zeitzone leben.
Von 3. bis 5. Mai findet in Jerez der erste Europa-GP statt. Hoffentlich finde ich bis dahin in die mitteleuropäische Zeitzone zurück. Und all die andern Schlafwandler auch.
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