Flügel & Co. – Hat die MotoGP ein Überhol-Problem?

Kolumne von Michael Scott
Fabio Quartararo führte den Zug beim Catalunya-GP an

Fabio Quartararo führte den Zug beim Catalunya-GP an

Immer mehr MotoGP-Piloten klagen: «Das Überholen ist komplizierter geworden» oder gar «Überholen ist unmöglich». SPEEDWEEK.com-Kolumnist Michael Scott geht dem Problem auf den Grund.

Es gibt viele Gründen für einen Aspekt, von dem viele glauben, dass er die MotoGP verdirbt: Das Überholen sei für die Fahrer extrem schwierig. Diese Litanei ist in unterschiedlichem Ausmaß auf allen Ebenen zu hören.

Lustigerweise sind viele dieser Gründe dieselben, die gleichzeitig dafür gelobt werden, dass sie das Rennfahrer enger denn je machen und für unterschiedliche Sieger sorgen. Zwei Seiten einer Medaille.

Grob gesagt: Es besteht eine Ähnlichkeit zwischen den Motorrädern. So viele der wesentlichen Elemente sind nach dem Motto «one size fits all» vorgegeben. Das Regelwerk schreibt vier Zylinder mit einer maximalen Bohrung von 81 mm vor; sechs Gänge und kein Doppelkupplungsgetriebe; exotische Materialien sind verboten.

Die grundlegenden Leistungsparamater sind festgelegt und die Detailentwicklung wird ebenfalls in Schach gehalten, weil die Motorenentwicklung während der Saison eingefroren ist und die homologierten Motoren verplombt sind. Jegliche Vorstellung vom Rennsport als ein offenes Feld für technische Entwicklungen ist hoffnungslos veraltet.

Dazu gibt es ein maximales Motorenkontingent, welches im Mai im Hinblick auf einen 21 Grand Prix langen Kalender auf acht Motoren pro Fahrer und Saison aufgestockt wurde (zehn für «concessions teams»). Der achte (oder zehnte) Motor darf aber erst ab dem 19. Event in Anspruch genommen werden. Mit der Absage des Finnland-GP ist diese Änderung aber zumindest für diese Saison wieder hinfällig, es bleibt als bei sieben bzw. neun Motoren.

Außerdem sind maximal 22 Liter Sprit vorgeschrieben. Diese Einschränkung limitiert Drehzahlen und PS. Noch entscheidender: Die Einheits-ECU sorgt für eine noch ebenere Spielwiese. Die Einheitsreifen bringen eine sehr eingeschränkte Auswahl mit sich und diktieren ähnliche Rennstrategien.

Dazu kommen andere dynamische Baustellen: Die größten Sorgen bereitet aktuell die Aerodynamik, wo es in den vergangenen fünf Jahren oder so die größte Entwicklung gab. Auch diese unterliegt strengen Vorschriften, nebenbei gesagt.

Die Auswirkungen beim Überholen sind aus der Formel 1 bekannt: Je effektiver die Flügel, umso mehr Luft wird dahinter aufgewirbelt. «Dirty air», nennen sie das.

In der Folge ist die Aerodynamik der nachfolgenden Motorräder weniger effektiv, die Downforce lässt nach – und die Vorteile wie die Kontrolle der Wheelie-Neigung und eine bessere Bodenhaftung der Front schwinden.

Das Windschattenfahren wird ungemein schwieriger. In der Vergangenheit konnte sich ein Fahrer dicht hinter dem Gegner zusätzlichen Speed holen, um dann aus dem Windschatten zu stechen und zu überholen. So funktioniert es nicht mehr. Mit diesen Flügeln wird er unangenehm, ja sogar gefährlich hin- und hergeschoben.

Das nächste Problem betrifft Reifendruck. Einem anderen Fahrer dicht zu folgen bedeutet, dass dein Vorderrad keinen sauberen, kühlen Luftstrom abbekommt. Der Reifen erhitzt sich, der Luftdruck steigt. Das wiederum sorgt für ein vom Ideal abweichendes Profil, raubt Grip und mindert die Berechenbarkeit. Und einmal mehr hat der Kerl, den man zu überholen versucht, all die Vorteile, während sich der Verfolger zurückfallen lassen muss, um den Reifen wieder zu kühlen.

Als einziger Yamaha-Pilot, der die Spitze aufmischt, ist Fabio Quartararo von dieser Problematik besonders betroffen. Die M1 muss die relativ schwache Beschleunigung mit dem Kurvenspeed ausgleichen. Wenn sein Reifendruck also durch die Decke geht, ist er doppelt benachteiligt.

Das stellt Fahrer und Crew-Chiefs vor eine knifflige Aufgabenstellung. Denn wenn du vorne weg fahren kannst, brauchst du einen etwas höheren Reifendruck, um vorne bleiben zu können. Wenn du dann aber hinter einem anderen Fahrer festhängst, wird dich der Reifendruck in Schwierigkeiten bringen, weil er noch weiter ansteigt.

Wenn man dagegen einen niedrigeren Reifendruck wählt, aber letztendlich führt, riskiert man den Mindestwert zu unterschreiten.

Das ist exakt das, was Pecco Bagnaia in Jerez – einem prozessionsartigen Rennen mit minimalen Überholmanövern – passiert ist. Der Ducati-Werksfahrer startete zwar von der Pole-Position, pokerte aber mit einem niedrigen Reifendruck. Weil er von der ersten Kurve an in Führung ging und die Spitzenposition das gesamte Rennen lang nicht abgab, erreichte sein Luftdruck im Vorderreifen nie die von Michelin empfohlenen 1,9 bar (1,7 bar für den Hinterreifen).

Der Vizeweltmeister wurde anschließend des Betrugs bezichtigt, aber Ducati wehrte sich. Denn es gibt ein Gentlemen’s Agreement, diese Verfehlung nicht zu bestrafen. Bagnaia machte öffentlich klar: Wäre seine Situation illegal gewesen, treffe das seit Beginn der Saison auf mindestens 18 andere Fahrer ebenfalls zu.

MotoGP Technical Director Danny Aldridge bestätigte schließlich in einer schriftlichen Stellungnahme, dass man das Protokoll – welches einheitliche Sensor- und Empfängersysteme beinhalten müsse – erst gemeinsam mit allen Herstellern im Hinblick auf ein Inkrafttreten in der kommenden Saison evaluiere. Andere Fahrer und Teams, die das Problem verstanden, hielten sich zum Großteil still, während Michelin gebeten wurde, einen Reifen zu bringen, dessen Toleranz höher sei.

Wie dem auch sei, ist die ganze Problematik um das erschwerte Überholen vielleicht überbewertet? Denn nicht jeder Fahrer scheint darunter zu leiden.

Eine Ad-hoc-Analyse der im Vergleich zu den jeweiligen Startpositionen gewonnen oder verlorenen Plätze seit Saisonbeginn zeigt: «Sonntagsfahrer» Brad Binder führt mit 42 gewonnen Plätzen. Maverick Viñales, der auf der Aprilia RS-GP über eine schnelle Runde noch Mühe hat, hält immerhin bei 32.

Im Gegensatz dazu sind es bei WM-Leader Fabio Quartararo nur acht gutgemacht Ränge – während Jack Millers Bilanz sogar negativ ist.

Vielleicht haben Binder und Co. auch einfach nicht zugehört.

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