Mein erstes Mal MotoGP: So anders war Silverstone!
Eigentlich ist die Formel 1 mein zu Hause. Seit Anfang 2020 habe ich – Rennen, Wintertests und andere Events zusammengezählt – gut 50 Events besucht. Am vergangenen Wochenende bin ich für SPEEDWEEK.com erstmals bei der MotoGP im Fahrerlager vor Ort gewesen.
Im Vorhinein hörte ich zwei Prognosen: «Das wird dir im Vergleich vorkommen wie eine Dorfkirmes“ und «Du wirst begeistert sein, wie nahbar alles ist.» Eine davon sollte zutreffen – eine nicht. Zumindest nicht so ganz.
Anfahrt Silverstone Circuit mitten im englischen Motorsport Valley. Die Ortsnamen auf den Straßenschildern kenne ich aus den vergangenen Jahren – und aus der Formel 1. Brackley (Mercedes), Banbury (Haas), Milton Keynes (Red Bull Racing). Da kam direkt Motorsport-Stimmung auf.
Anfahrt Rennstrecke, ein Stopp gegenüber der riesigen neuen Aston-Martin-F1-Fabrik, um meine Akkreditierung abzuholen. Und dann ging‘s auch schon in das Herz von Silverstone. Vorfreude wich Ernüchterung. Denn meine erste Reaktion war: Ich habe die Strecke in Silverstone noch nie so leer gesehen. Rennstimmung? Ehrlicherweise nicht.
Ich war dreimal zur Formel 1 in Silverstone. Und selbst im zweiten Pandemie-Sommer 2021 war mehr los. Viel mehr. Jedes Jahr geht hier zur Formel 1 die Post ab: Food Trucks, Fan-Massen schon früh morgens und noch spät abends, Konzerte und der vorsichtige Slalom bei der An- und Abfahrt durch die feiernde Meute. Die Atmosphäre zur MotoGP: komplett anders, gähnende Leere. Allerdings war auch erst Donnerstag.
Bis zum Rennsonntag sollte es noch etwas lebendiger werden. Mit kleinen Fan-Events am Rande (da passt das mit der Dorfkirmes tatsächlich), ein paar Fressbuden – aber ziemlich leeren Rängen.
Ein britischer Kollege verriet mir: Wirklich bombastisch ist die Stimmung hier zur MotoGP nie. Dieses Jahr kam wohl noch dazu, dass die Isle of Man TT (eine Art britisches Nationalheiligtum unter Motorradfans) direkt im Anschluss stattfand. Aber auch in den vergangenen Jahren sanken die Zuschauerzahlen zur MotoGP stetig, waren nun erstmals unter der 100.000er-Marke (übers gesamte Wochenende). Die gestiegenen Lebenshaltungskosten sind ein Faktor – allerdings sind bei der teureren Formel 1 die Ränge ja auch voll (dort fahren allerdings auch vier Briten). Vielleicht war auch einfach die Versuchung zu groß, vom Sofa aus MotoGP, Formel 1 und Indy500 hintereinander weg zu gucken. Erstmals fand der England-GP im Mai und nicht erst im August statt.
Das Gute an der Zuschauer-Flaute: Die abenteuerliche Stau-Umfahrung über Kuhweiden und Äcker konnte ich mir diesmal sparen. Allerdings geht mit dem ausbleibenden Verkehrschaos zwischen erwartungsvollen Fans zugegebenermaßen auch ein bisschen Atmosphäre verloren.
Die Formel 1 ist eben ein britischer Sport, in Silverstone zu Hause. Die MotoGP ist vor allem spanisch und italienisch geprägt. In Jerez waren die Ränge schon im Morgengrauen voll, auch in Frankreich sammelten sich zwei Wochen zuvor in Le Mans die Massen. Silverstone war ein Ausreißer nach unten. Und zugegeben: Es gibt in der Formel 1 definitiv stimmungsärmere Rennen. Grüße gehen an dieser Stelle raus nach Bahrain und Katar.
Apropos britisch, spanisch, italienisch… Formel 1 und MotoGP eint: Fahrer aus dem deutschen Sprachraum sind in beiden Rennserien rar. Projekte wie Audi in der F1 oder Intact in der Moto2 und Moto3 machen Hoffnung.
Und die Stimmung? Die kam dann glücklicherweise noch, allerdings eher im Inneren des Fahrerlagers. Und natürlich auf der Strecke (meine Güte, was für ein Rennen!). Das rege Treiben im Fahrerlager glich dem in der Formel 1 – wenn auch tatsächlich offener, nahbarer.
Ein bisschen leerer war es schon (Silverstone aber auch ein riesiges Paddock), das Prinzip aber gleich: Garagen, Trucks und Hospitalitys. Weniger Aufpasser und Türsteher als beim Vierrad – eigentlich abgesehen vom Personal der Strecke kaum welche. In der MotoGP können sich selbst die Top-Fahrer relativ frei bewegen, geben hier und da Autogramme, machen Selfies. Die etwas unbekannteren Fahrer schlüpfen auch einfach mal völlig unbemerkt durch. In der Formel 1 haben die meisten Piloten inzwischen Bodyguards, müssen sich bei einigen Events förmlich den Weg durch die Menge pflügen.
Samstag und Sonntag ließen sich dann auch einige bekannte Gesichter im Fahrerlager blicken: Ex-F1-Teamchef Günther Steiner, TT-Pilot Guy Martin, Top-Gear-Star Richard Hammond, der Schauspieler Sam Heughan, die Fußball-Freestylerin Lirian Santos. Mit Royals und Hollywood konnte die MotoGP an dem Wochenende nicht aufwarten – die waren wohl alle in Monaco bei der Formel 1. Liberty Media wird hier – so die Übernahme denn kartellrechtlich genehmigt wird – sicherlich schalten und walten und für ein bisschen mehr Promi-Andrang sorgen. Von Dorfkirmes im Fahrerlager aber trotzdem keine Spur.
Es ist ein bisschen ruhiger und gemütlicher bei den Motorrädern – und es sind deutlich weniger Kameras vor Ort. Keine Netflix-Serie, kein Hollywood-Blockbuster werden hier gedreht und halten ihre Mikrofone überall hin. Nur vereinzelt TV-Teams, die sich im großen Paddock gut verteilt haben. Man muss nicht ständig schauen, dass man niemandem im Bild steht. Ich empfand das als sehr angenehm.
In beiden Fahrerlagern habe ich außerdem eine zwischenmenschliche Wärme wahrgenommen. Zusammenhalt über Teamgrenzen und Funktionen hinaus, gemeinsame fröhliche Team-Abendessen und Feierlichkeiten, ein munteres Beisammensein von Leuten, die ihre Leidenschaft für den Motorsport zusammenschweißt. 24 bzw. 22 Rennwochenenden gemeinsam auf Weltreise zu sein, schweißt zusammen. Ob zwei oder vier Räder, ist da völlig egal.
Als nächstes bin ich am Sachsenring dabei. Und da sind sich diesmal alle in den Prognosen einig: «Das wird der Wahnsinn.»
Übrigens: Wer sich vergangenen Sonntag beim Monaco-GP der Formel 1 gelangweilt hat, hätte mal bei der MotoGP reinschauen sollen. Überholmanöver sind hier nämlich Normalität und kein schieres Wunder.