Ein Hoffnungsschimmer bei der KTM AG

Champion Herlings zog vor der Legende Cairoli den Hut

Kolumne von Nora Lantschner
Das Saisonfinale der MXGP-WM 2021 war ein Feuerwerk an Emotionen, auf und neben der Strecke. Es konnte am Ende nur einen Weltmeister geben, großer Gewinner war aber der Motocross-Sport.

Der Blick auf den mehrfach nachgebesserten Kalender der Motocross-WM 2021 rief Skepsis hervor: Der Saisonabschluss – und das Abschiedsrennen von Tony Cairoli – fand ausgerechnet an einem Mittwoch statt. Die EMX-Rennen am Vortag waren noch schlecht besucht, doch schon in den frühen Morgenstunden wurde klar, dass die Kulisse in Mantua einen würdigen Rahmen für ein nie dagewesenes WM-Finale bieten würde.

Scharenweise strömten die Fans heran – von den eingefleischten Gajser-Fans aus Slowenien über jede Menge Oranje-Unterstützung für Jeffrey Herlings bis zu den vielen italienischen Cairoli-Anhängern war alles dabei. Bei den ein oder anderen jüngeren Fans wurde dafür ausnahmsweise sogar die Schule geschwänzt, stattdessen schwenkten sie an einem denkwürdigen Mittwoch fleißig die von Helmhersteller-Airoh verteilten Fähnchen für «The Legend of Cairoli».

Der sogenannte «Green Pass» war vorgeschrieben, wer einen Medien-Ausweis oder Team-Pass abzuholen hatte, irrte zudem eine Weile auf der Suche nach dem «Welcome Point» durch den kühlen Novembermorgen, eine Beschilderung sind wir von den italienischen Organisatoren aber ohnehin nicht gewohnt. Im Fahrerlager herrschte zwischen den Team-Trucks Hochbetrieb wie zuletzt vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Denn für die Zuschauer gab es erst seit September wieder die Option, für 30 Euro Aufpreis Zutritt zum MXGP-Paddock zu erlangen.

Die Gänsehaut gab es auf der Naturtribüne rund um die Strecke kostenlos oben drauf. Die Stimmung war grandios, die Luft elektrisiert – und je nach Fanblock bunt gefärbt, als die bengalischen Feuer während der Einführungsrunde die Sicht fast vernebelten.

Der 36. und letzte Lauf kürte den MXGP-Weltmeister

Vor allem der letzte Lauf hatte es in sich, waren Jeffrey Herlings und Romain Febvre nach 35 Wertungsläufen doch tatsächlich punktgleich. Das Traumszenario für alle unabhängigen Beobachter war eingetreten. In der Haut der Titelkandidaten – die hinter dem Startgatter auch noch nebeneinander Aufstellung genommen hatten – oder ihren Familien und Crews wollte dagegen keiner stecken, als die 15-Sekunden-Tafel zum letzten Mal in der MXGP-Saison 2021 in die Höhe ging.

Febvre warf alles in die Waagschale und setze sich auf der Startgerade entschieden vor Herlings. Der Red Bull-KTM-Star machte seinerseits aber schnell klar, wer im Moment der beste Motocross-Fahrer auf dem Planeten ist. Ein Raunen ging durch die Menge, als er den Franzosen in der zweiten Runde überholte. Die Vorentscheidung war gefallen, das war spürbar, und der Sturz des Kawasaki-Hoffnungsträgers bestätigte dies wenige Runden später nur noch. Das faire Publikum feuerte alle trotzdem bis in die letzte Runde an.

Auch wenn am Ende nur fünf Punkte den Ausschlag gaben (immerhin genug, um die Stallorder-Diskussion von Arco endgültig ad acta zu legen): Herlings ist der verdiente Weltmeister. Dafür spricht nicht nur seine beeindruckende Bilanz mit neun GP-Siegen, 14 Podestplätzen und 13 Pole-Position in dieser Saison. Wer das Glück hatte, den 27-jährigen Niederländer live auf der Strecke zu sehen, wird mir beipflichten: Es gibt aktuell keinen anderen auf der Welt, der ein 450-ccm-Motocross-Bike so kraftvoll und effektiv um die Strecke bewegt. «Poetry in Motion», Poesie in Bewegung.

Der Weltmeister selbst bezeichnete seine Fahrweise in den titelentscheidenden Rennen von Mantua übrigens als «schrecklich». Dass auch ein Herlings, der für Außenstehende oft fast schon zu fokussiert und abgeklärt wirkt, am Ende Emotionen zeigte, tat dann auch irgendwie gut.

Bravo Romain, Grazie Tony

Wer fühlte nicht mit dem verständlicherweise tief enttäuschten Romain Febvre mit, als er bei der Medaillenvergabe auf dem Podium ins Leere starrte? Keiner hatte verdient zu verlieren, auch der drittplatzierte Tim Gajser nicht. Für den Titelverteidiger blieb nach dem unglücklich verlaufenen ersten Mantua-GP nur noch eine Nebenrolle übrig, die er aber bis zum Zielsprung mit viel Kampfgeist ausfüllte. Das Trio hat in der finalen Phase der Saison eine unglaubliche Show geliefert! Trotzdem: Es kann nur einen Meister geben.

In Mantua waren es am Ende aber ausnahmsweise dennoch zwei. Antonio Cairolis letzter Grand Prix war nicht der erhoffte Triumphlauf, sein hängender Kopf nach dem optimistischen Manöver gegen Jeremy Seewer und dem daraus resultierenden Ausfall im ersten Lauf sprach Bände. Trotzdem erntete der populäre Sizilianer noch Szenenapplaus. Im zweiten Lauf blieb ein sportliches Ausrufezeichen ebenfalls aus. Davon hatte der 94-fache GP-Sieger in den vergangenen 18 Jahren aber schon mehr als genug gesetzt, wie ein Blick auf sein besonderes Jersey in Erinnerung rief. Empfangen wurde er daher nach der Zieldurchfahrt wie kurz zuvor der neue Weltmeister. Sogar einen Goldhelm gab es zum Abschied.

Das Bild des Tages lieferten – passend zum Drehbuch – die zwei Protagonisten: Jeffrey Herlings ging vor Tony Cairoli auf die Knie und zog den Hut vor dem neunfachen Titelträger. Der nicht gespielten Geste kann man sich nur anschließen: «Grazie Tony!»

Nach einem derart nervenaufreibenden Tag stieg bis spät in die Nacht eine umso ausgelassenere Party beim Red Bull-KTM-Truck, sogar mit dem in Italien bekannten DJ Cristian Marchi. Selbst unter dem Kawasaki-Zelt machte die anfänglich bittere Enttäuschung wilden Burnouts Platz, immerhin bedeutet der zweite WM-Platz von Febvre das beste Ergebnis für den japanischen Hersteller in der Motocross-Königsklasse seit 20 Jahren.

Er werde es im nächsten Jahr wieder versuchen, kündigte der MXGP-Weltmeister von 2015 bereits an. Wie gut, dass wir uns nicht wieder bis Juni gedulden müssen, wenn es 2022 in die nächste Runde geht.

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