MotoGP: Pramac-Boss schießt gegen Ducati

Zehn Gründe, warum Rossi Ende 2014 aufhören wird

Von Günther Wiesinger
Valentino Rossi und Freundin Linda Morselii

Valentino Rossi und Freundin Linda Morselii

Eine spannende Frage vor dem Start zur MotoGP-Saison 2014: Wird Valentino Rossi seinen Yamaha-Vertrag für 2015 und 2016 verlängern?

Natürlich bewegen wir uns jetzt auf dem Gebiet der Spekulation. Der neunfache Weltmeister und 106-fache GP-Sieger hat deutlich angekündigt, dass er sich alle Möglichkeiten offen lässt. Beim Mugello-GP (1. Juni) will er sich entscheiden.

Die Ergebnisse der ersten sechs Rennen werden massgeblich sein.

Ich verfolge die Karriere von Valentino seit seiner ersten Testfahrt mit der AGV-Honda des Pileri-Teams in Misano, damals war er 14 Jahre alt.

Weniger später unterschrieb er einen Vier-Jahres-Vertrag bei Aprilia.
1997 gewann er die 125er-WM, 1999 die 250er-WM. Daraufhin übersiedelte er in die 500er-Klasse und gewann sie 2001 auf der Honda. Sechs weitere Titel in der Königsklasse folgten: 2002, 2003, 2004 (erstmals auf Yamaha) und 2005, danach 2008 und 2009.
Doch in den letzten drei Jahren hat Rossi nur einen Grand Prix gewonnen – in Assen 2013.

Im vergangenen Sommer hätte ich noch gewettet: Rossi verlängert im Laufe des Jahres seinen Yamaha-Vertrag.

Heute prophezeie ich, auch auf die Gefahr hin, mich gewaltig zu blamieren: Der Zweirad-Superstar wird sich Ende 2014 aus der MotoGP-WM verabschieden.

Ich habe schon einmal journalistischen Mut bewiesen, und zwar 2005. Damals habe ich in einer Kolumne sieben Gründe genannt, warum Rossi nie in seinem Leben ein Formel-1-Rennen bestreiten wird. (Vielleicht war damals auch der Wunsch Vater des Gedankens).

Alle anderen Kollegen fragten sich nur, ob Vale den zweiten Ferrari neben Schumacher bekommt oder ob die Scuderia einen dritten einsetzen wird.

Ausserdem fragten sich die italienischen Rossi-Hofpoeten, ob er fürs Autofahren 30 Millionen Euro oder mehr kriegen würde.

Heute finde ich zehn triftige Gründe, die Rossi per Jahresende zum Rücktritt bewegen werden. Es gibt nichts zu beschönigen. Valentino hat den Zenit seines Könnens längst überschritten. Der Glanz bröckelt. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Mit 35 Jahren hat der Publikumsliebling sein Ablaufdatum erreicht.

1. Die Generationenfrage

Valentino Rossi hat in seiner Anfangszeit in der Königsklasse Max Biaggi zermürbt, danach Sete Gibernau psychisch zerstört, er hat Casey Stoner überlebt – aber schliesslich 2010 gegen seinen Yamaha-Teamkollegen Jorge Lorenzo den Kürzeren gezogen. Zum Trotz ging er zwei Jahre zu Ducati – ins Tal der Tränen. Lorenzo gehörte der nächsten MotoGP-Generation an, er ist acht Jahre jünger als der Evergreen aus Tavullia. Lorenzo erwies sich für Rossi in seiner dritten MotoGP-Saison 2010 als unüberwindliche Hürde. Selbst Dani Pedrosa liegt für Rossi heute meist ausser Reichweite. Und zu allem Überdruss 2013 ist noch der neue Überflieger Marc Márquez aufgetaucht.

2. Der Fahrstil

Rossis Fahrstil in der Königsklasse wurde von den Michelin-Reifen geprägt. Er bevorzugte extrem harte Karkassen, Michelin schneiderte ihm die Reifen auf den Leib. Seit 2009 sind die Einheitsreifen von Bridgestone vorgeschrieben, damit büsste Rossi einen seiner grössten Trümpfe ein. «Rossis Stil ist elegant und lehrbuchhaft, der von Márquez spektakulär und halsbrecherisch», lautet die Diagnose von Stefan Bradl. «Wenn man einen Vergleich aus dem Tennissport hernehmen will, dann ist Rossi mit Federer zu vergleichen, der wunderschön spielt, während Nadal draufhaut wie ein Ochse. Mein Fahrstil liegt irgendwo zwischendrin...» Aber die Fahrweise von Márquez ist effektiver, er fährt weniger lang auf der äussersten Reifenkante – und beansprucht deshalb auch die Reifen weniger.

3. Das neue Quali-Format

2013 kam in der MotoGP-WM erstmals ein neues Qualifying-System ins Spiel, in dem die zehn Besten aus den ersten drei freien Trainings und die zwei Schnellsten aus dem Qualifying 1 um die zwölf besten Startplätze raufen – in nur 15 Minuten. Das bedeutet: Die Startplätze in Q2 werden in zwei Runs zu je zwei Runden ermittelt, es geht hektisch zu, es darf kein Fehler passieren. Rossi qualifizierte sich oft nur für die dritte Reihe, damit waren die Chancen auf einen Podestplatz schon vor dem Start beim Teufel. Und dem Yamaha-Star gelang es bei 18 Rennen nicht, sich besser mit diesen neuen Anforderungen anzufreunden. Er braucht zu viele Runden, bis er genug Vertrauen zu den Reifen findet. (Früher dauerte das Quali Freitag und Samstag je eine Stunde, es standen unzählige Quali-Reifen zur Verfügung).

4. Das Motorrad

Es gab Jahre, da brauchte Rossi nicht das beste Material, er gewann trotzdem. Aber damals war er einsame Klasse. Fahrer wie Biaggi, Capirossi, Barros, Checa, Abe, Katoh, Gibernau, Melandri und Hayden fehlte der Glanz und die Beständigkeit des Italieners. Zur Erinnerung: 2002 wurde ein gewisser Tohru Ukawa WM-Dritter. Kein Pilot, der in Erinnerung bleibt. Es gab es Jahre, auch bei Yamaha, da profitierte Rossi vom überlegenen Material, vom besseren Gesamtpaket. Denn Honda baute jahrelang die stärksten Motoren, doch die Fahrwerke liessen zu wünschen übrig. Heute ist das Honda-Paket insgesamt schlagkräftiger – und besser an die Anforderungen der Bridgestone-Reifen angepasst. Honda hat das überlegene Seamless-Getriebe (das heisst: ohne Zugunterbrechung, es lässt sich in maximaler Schräglage problemlos schalten), die ausgefeiltere Elektronik, weniger Spritverbrauch, bei den Motoren mehr Lebensdauer.

5. Der Teamkollege

In seinen ersten Jahren in der Königsklasse hatte Rossi willfährige Teamkollegen zur Seite, ähnlich wie Schumacher bei Ferrari. Ukawa bei und Hayden Repsol-Honda, Colin Edwards bei Yamaha, das waren keine Bedrohungen. Als Yamaha für die Zukunft vorsorgte und für 2008 den jungen 250-ccm-Weltmeister Jorge Lorenzo engagierte, geriet Rossis Welt aus den Fugen. Lorenzo galt sofort als Mann der Zukunft, er schüttelte bei den ersten drei MotoGP-Rennen drei Trainingsbestzeiten aus dem Ärmel. Doch Rossi hatte sich gewappnet. Er hatte dank seiner Beziehungen sichergestellt, dass er als einziger Yamaha-Werkspilot die überlegenen Bridgestone-Reifen bekam, die 2007 Stoner zum Titel verholfen hatten. Rookie Lorenzo wurde mit Michelin abgespeist. Zudem wurde in der Box eine Trennmauer eingezogen, eine beispiellose Erniedrigung für den aufmüpfigen spanischen Eindringling. Nach Lorenzos Titelgewinn 2010 beging der stolze Rossi den grössten Fehler seines Lebens: Er ging zu Ducati und glaubte, er könne dort das Yamaha-Wunder wiederholen. Für 2013 fädelte er seine Rückkehr zu Yamaha ein. Das Motto: Die alte Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht. Doch Vale muss sich heute bei Yamaha untertänig in seine Nr.-2-Position fügen. Dass er Lorenzo, dem Weltmeister von 2010 und 2012, heute nicht mehr gewachsen ist, war 2013 augenscheinlich.

6. Die Bedrohung Márquez

Gleich beim ersten Sepang-Test in der ersten Februar-Woche 2013 sagte Rossi mit einem Blick auf die famosen Zeiten von Rookie Marc Márquez: «Wenn ich gegen Marc gewinnen will, muss ich es in der ersten Saisonhälfte tun. Denn in der zweiten wird er schon zu schnell sein.» Ein Irrtum: Der Spanier gewann das zweite Rennen und räumte im Juni und Juli vier Siege hintereinander ab. Mit 35 Jahren findet der italienische Dauerbrenner (erster GP-Sieg 1997!) kein Rezept mehr gegen die jungen Löwen. Rossi wirkte 2013 oft zermürbt und ratlos. Márquez wird längst als neuer Rossi gepriesen.

7. Das gewisse Etwas

Als Rossi Ende 2003 das ruhmreiche Repsol-Honda-Team verliess und für 2004 zur geprügelten Yamaha-Truppe (letzter Titelgewinn 1992) wechselte, war er vom Honda-Gehabe angewidert. Motto: Auf einer Honda kann jeder beliebige Fahrer siegen. «Ich will zeigen, dass nicht das Motorrad den Unterschied ausmacht, sondern der Fahrer», hielt er fest. Und gewann für Yamaha vier Titel in sechs Jahren. Honda siegte in dieser Phase nur einmal – 2006 mit Hayden. Honda-Rennchef Kanazawa wurde strafversetzt. «Wenn Rossi geht, bauen wir halt ein noch bessereres Motorrad und zerstören ihn», hatte er lässig angekündigt.
Seit 2010 ist Rossi seinen eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht geworden. Auch im Yamaha-Werksteam nicht. Heute sind es Marc Márquez und Jorge Lorenzo, die den Unterschied ausmachen.

8. Agostinis Rekord

Eine Zeit lang befand sich Rossi auf dem bestem Weg, Giacomo Agostinis ewigen Rekord (122 GP-Siege, 15 WM-Titel) einzustellen, obwohl Ago seinerzeit immer in zwei Klassen fuhr. Doch die Erfolge der Nummer 46 sind seit 2009 ins Stocken geraten. Die Phasen mit elf Siegen pro Saison gehören der Vergangenheit an und werden nie wiederkehren. Valentino hält bei neun WM-Titeln und 106 Siegen. «Ich rede zumindest von einer Vertragsverlängerung bei Yamaha für 2015 und 2016, damit Ago einen Schrecken kriegt», hielt Rossi gegenüber SPEEDWEEK.com im Juli 2013 lachend fest. Dieser Rekord war lange ein Anreiz für Rossi. Aber heute ist er nur noch eine Utopie, eine Fata Morgana in der MotoGP-Wüste.

9. Die neuen Standbeine

Valentino Rossi hat in letzter Zeit bereits die Weichen für die Zeit nach seiner aktiven Laufbahn gestellt. Er hat die CVR 46 Riders Academy gegründet, mit der er ganz junge Fahrer wie Bulega, Migno, Antonelli, Fenati und Bagnaia sowie seinen Halbbruder Luca Marini beim Weg an die Weltspitze unterstützt. Er hilft bei der Sponsorsuche, er gibt Tipps, er sucht passende Teams und konkurrenzfähiges Material. «Und erst wenn diese Talente Geld verdienen, werde ich Geld zurückfordern», sagt Rossi. Eigentlich wollte Valentino erst 2015 ein eigenes Moto3Team. Jetzt hat er es für 2014 vorgezogen und erstklassiges Werksmaterial bei KTM besorgt. Noch ein dezenter Hinweis darauf, dass er rechtzeitig ein neues Standbein sucht. Mit seiner VR46-Merchandising-Linie macht Rossi Millionenumsätze. Auch dieses Geschäft wird ausgebaut: Valentino erzeugt, vertreibt und verkauft jetzt auch die Merchandising-Produkte für seinen Rivalen Cal Crutchlow.

10. Die Zukunftsplanung

Valentino Rossi verriet uns im Juli 2013, dass er in den nächsten Jahren heiraten und Kinder haben will. Mit der hübschen Linda Morselli hat er längst die passende Partnerin gefunden. Es wird über einen Hochzeitstermin diskutiert. Eine komplette Superbike-WM-Saison interessiert Rossi nach der GP-Karriere nicht, obwohl sein Rivale Biaggi in dieser Kategorie mit 41 Jahren noch Weltmeister wurde. Er will nachher lieber Sportwagenrennen fahren oder Tourenwagenrennen – zum Beispiel in der DTM. Mit Fernando Alonso hat er bereits über eine Teilnahme am 24-h-Rennen von Le Mans gesprochen.

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich habe Rossi als Rennfahrer und Mensch vom ersten Tag an bewundert. Er ist immer ein ergiebiger Gesprächspartner, er trägt das Herz auf der Zunge, er ist schlagfertig, ehrlich, wachsam, neugierig, ein emotioneller Typ, ein leidenschaftlicher Rennfahrer, wahrlich ein gefundenes Fressen für jeden Berichterstatter. Er hat in 18 GP-Jahren Legendenstatus erreicht, aber nie die Bodenhaftung verloren. «The Doctor» versteht sich als Botschafter des Motorsports, als Aushängeschild einer ganzen Branche. Valentino wird eine riesige Lücke hinterlassen. Mit 34 Jahren war er 2013 noch der einzige Siegfahrer Italiens...

Aber Rossi hat seine besten Tage hinter sich. Daran wird auch der Wechsel des Crew-Chiefs von Burgess zu Galbusera nichts ändern.

Das Aufhören wird ihm genau so schwer fallen wie einst Agostini. Es werden Tränen fliessen. Aber Rossi ist nicht mehr das schnellste Lebewesen auf zwei Rädern. Ich will ihn nicht noch jahrelang nach vierten und fünften Plätzen leiden sehen, nach Erklärungen suchend. Bautista war bisher nie ein Gegner für ihn. Machen wir uns nichts vor: Cal Crutchlow hat ihm sogar mit einer privaten Yamaha manchmal die Show gestohlen. Stefan Bradl wird ihm 2014 Kopfzerbrechen bereiten.

Das sind keine vielversprechenden Aussichten für den einstigen Seriensieger. Es ist Zeit zu gehen. Die alten Kampfgefährten wie Biaggi, Gibernau, Capirossi, Checa und Barros sind längst weg.

Eine grosse Karriere steuert auf ihr Ende zu. Wir verneigen uns vor einem unvergleichlichen Rennfahrer, der uns viele unvergessliche Highlights beschert hat. Auf und neben der Piste. Der mutig genug war, von Honda wegzugehen, was Mick Doohan nie wagte. Der sich auf das Ducati-Abenteuer einliess, aus verletztem Stolz. Der sich nicht zu schade war, wieder bei Yamaha anzuklopfen, für eine höchst bescheidenes Gage, quasi für ein Gnadenbrot, weil er es noch einmal wissen wollte.

Das Comeback bei Yamaha ist nicht schiefgegangen. Aber glorreich ist es bisher nicht verlaufen.

Ich hoffe, Valentino gelingen in der kommenden Saison bessere Resultate als im Vorjahr. Sonst wirft er gleich mitten in der Saison den Krempel hin.

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