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Mattia Binotto (Ferrari): 2020 auf dem Schleudersitz

Kolumne von Mathias Brunner
​Die Teamchefs des berühmtesten Rennstalls der Welt haben kein einfaches Leben: Immer wieder mussten sie in den vergangenen Jahren wegen Erfolglosigkeit ihren Posten räumen.

Kein Teamchef steht so unter Erfolgsdruck wie der Steuermann von Ferrari: Der berühmteste Rennstall der Welt ist zum Erfolg verdammt, und gemäss des Beispiels aus dem Fussball muss jeweils der Trainer gehen, auch wenn die Mannschaft einen Mist zusammengekickt hat. Die Saison 2020 ist kritisch für Mattia Binotto – es ist das letzte Jahr vor dem Hintergrund eines stabilen Reglements, was 2021 mit den komplett neuen Rennwagen passiert, weiss keiner. Was die Tifosi hingegen schmerzlich genau wissen: Ferrari ist seit Kimi Räikkönen 2007 ohne Fahrer-WM-Titel, und der Konstrukteurs-Pokal ging letztmals 2008 nach Maranello.

Der 50jährige Mattia Binotto kennt die Ferrari-Historie wie seine Westentasche. Gerade die vergangenen Jahre haben gezeigt, wie schnell ein Ferrari-Teamchef seinen Posten los sein kann.

Maurizio Arrivabene musste wegen der verlorenen Titel von Sebastian Vettel gegen Lewis Hamilton gehen. Besonders bitter – Ferrari schien zu Saisonbeginn 2018 und bis in den Sommer hinein das bessere Fahrzeug zu besitzen. Fahrfehler von Sebastian Vettel, Strategiepatzer von Ferrari, vor allem jedoch eine effizientere Entwicklung bei Mercedes-Benz führten dazu, dass die Silberpfeile ab Sommer mehr Erfolg hatten.

Aber das verlorene Titelrennen allein war es wohl nicht. Auch der Führungsstil von Arrivabene stand wohl auf den Prüfstand. Es ist davon die Rede, dass er zu viel alleine entscheiden wollte, das habe bei seinen Mitarbeitern zu Murren geführt. Er habe Mitarbeiter eingeschüchtert, worüber keiner öffentlich spricht und folglich als Hörensagen eingestuft werden muss. Er führte hingegen eine Nullinformations-Politik auf dem Rennplatz, wofür es reichlich Beweise gibt. Er war der einzige Teamchef, der über FIA-Medienrunden und einige kurze TV-Interviews hinaus für Berichterstatter nicht weiter zugänglich war. Keine besonders weise Vorgehensweise, wenn man am Ruder des berühmtesten Rennstalls der Welt steht.

Arrivabenes Vorgänger Marco Mattiacci war ein Quereinsteiger, er kam als erfolgreicher Ferrari-Chef Nordamerika zur Formel 1. Doch der Römer trat ein schweres Erbe an. Der Ferrari F14T, der ihm Domenicali überlassen hatte, war unheilbar schlecht. Nach nur einem halben Jahr war er wieder weg. Stefano Domenicali zuvor wurde zum Verhängnis, dass Fernando Alonso es in fünf Jahren Ferrari nicht schaffte, Weltmeister zu werden. Am Spanier lag es nicht – die Ergebnisse seiner Stallgefährten zeigten, wie gut der Ferrari wirklich war.

In den letzten Jahren ist bei Ferrari kein Stein auf dem anderen geblieben. Die komplette Führungsriege ist ausgetauscht worden. Viele langjährige Mitarbeiter mussten ihren Hut nehmen: Teamchef Stefano Domenicali im Frühling 2014, Motorenchef Luca Marmorini im Sommer danach, Präsident Luca Montezemolo im Spätsommer, um nur die wichtigsten drei zu nennen, dann – nach nur sieben Monaten – Teamchef Marco Mattiacci im Herbst, ersetzt durch Maurizio Arrivabene. Im Dezember 2014 wurde auch Chefdesigner Nikolas Tombazis in die Wüste geschickt. Ihm wurde vorgeworfen, jahrelang zu konservativ entwickelt zu haben. Anfang 2019 kam dann Mattia Binotto für Arrivabene.

Maurizio Arrivabene als Teamchef von Ferrari entsorgt, Technikchef Mattia Binotto befördert, ein regelrechter Umsturz, wieder Wirbel um Ferrari. Das machte auch Mauro Forghieri Gedanken. Der Italiener wurde 1962 von Enzo Ferrari zum Sportdirektor und Chefingenieur ernannt, 1970 erhielt er den Posten des Technikchefs. Den behielt er gut fünfzehn Jahre lang, dann suchte Maranello sein Heil mit britischen Technikern, und Mauro Forghieri geriet ins Abseits. Unter seiner Führung gewann Ferrari vier Fahrertitel in der Königsklasse (John Surtees 1964, Niki Lauda 1975 und 1977 sowie Jody Scheckter 1979). Auch in hohem Alter (Forghieri wird am 13. Januar 84 Jahre alt) ist das Interesse am Rennsport hellwach geblieben, so auch an den jüngsten Entwicklungen bei Ferrari.

«Ich weiss, wie es ist, bei Ferrari mehrere Rollen gleichzeitig zu spielen», sagte Forghieri meinem Kollegen Franco Nugnes von motorsport.com. «Aber ich hatte damals volle Rückendeckung von Enzo Ferrari.» Die Zeiten haben sich gewandelt. Wir leben im Zeitalter der Spezialisten, nicht der Allrounder. Konstrukteure wie Mauro Forghieri haben ein ganzes Auto entworfen, heute haben wir Techniker, die kümmern sich ausschliesslich um Aufhängungen, sie hätten keinen blassen Schimmer, wie sie einen Motor bauen sollen.

Wann war es eigentlich vor «Arrivabene raus, Binotto rauf» letztmals zu einer Beförderung des technischen Leiters zum Teamchef gekommen? Wir müssen ein wenig zurückblättern, es war Claudio Lombardi 1991.

Was ich an Ferrari-Teamchef Mattia Binotto sympathisch finde: Er redet nicht um den heissen Brei herum. Und schon gar nicht versteckt er sich hinter Floskeln oder gleich hinter einer Mauer des Schweigens wie sein Vorgänger Maurizio Arrivabene. Über die offensichtlichen technischen Mängel müssen wir uns nicht unterhalten, die waren so offensichtlich wie die Kollision von Sebastian Vettel und Charles Leclerc in Brasilien. Binotto gibt strategische Fehler zu. Und er ist der Erste, der nicht verheimlicht: Der 2019er Ferrari war einfach nicht schnell genug. Aber der 50-Jährige lässt sich auch nicht alles schlechtreden.

Binotto bringt das so auf den Punkt: «Gut fand ich die neun Pole-Positions und die drei Siege, dazu hatten wir teilweise ein wirklich konkurrenzfähiges Fahrzeug, und ich weiss den Kampfgeist der ganzen Mannschaft zu schätzen. Gar nicht gefallen haben mir die eigenen Fehler und die mangelnde Standfestigkeit. Aber wenn ich das heutige Ferrari am Ferrari aus der Ära Schumacher und Todt messe, dann sind wir noch immer ein junger Rennstall.»

«Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir 2020 stärker sein werden. Wir treten nicht an, um Zweite zu werden. Wir fahren, um Rennen zu gewinnen und am Ende den Titel. Versprechungen will ich den Tifosi keine machen. Ich habe keine Kristallkugel, ich weiss daher nicht, was die Anderen für 2020 alles aufgleisen. Ich kann aber versichern, dass sich jeder hier gewaltig ins Zeug legen wird, um 2020 besser abzuschneiden als in der vergangenen Saison. Wir wollen solche Gänsehautmomente wie beim Sieg in Monza vermehrt erleben.»

«Wir haben 2019 zu viele Fehler gemacht, auf verschiedenen Ebenen. Vielleicht waren auch die Erwartungen zu gross nach dem erfreulichen Wintertest. Ich würde sagen: In Sachen Standfestigkeit waren wir ungenügend; punkto Konkurrenfähigkeit genügend; bei der Fehlerquote ungenügend. Wenn ich das alles anschaue, muss ich zum Schluss kommen – insgesamt ungenügend.»

«Aber ich sehe unser Glas halb voll, nicht halb leer. Wir haben neun Pole-Positions erkämpft, sechs davon hintereinander, unsere Autos lagen 406 Runden lang in Führung, das entspricht einem Drittel der ganzen Saison. Wir haben in Monza gewonnen, erstmals seit 2010. Fallweise war unser Auto das schnellste im Feld.»

«Positiv ist für mich auch das Wachstum von Charles Leclerc, er hat sich bei uns hervorragend eingelebt – dabei ist sein Verdienst so gross wie jener der Mannschaft.»

«Wenn ich insgesamt die Note ungenügend gebe, so muss ich das gleich relativieren: Denn wir stecken in einem mittel- bis langfristigen Projekt, das nun im ersten Jahr stabil gearbeitet hat. Klar hätten wir aus 406 Führungsrunden mehr Siege machen müssen, aber ich sehe uns in einer Wachstums-Phase so wie das frühere Ferrari um Jean Todt und Michael Schumacher. Ich sehe uns als junges Team. Es hat auch damals seine Zeit gedauert, bis Ferrari die Früchte der Arbeit ernten konnte. 1997 und 1998 ging der Titel knapp verloren, 1999 konnte dann der Konstrukteurs-Pokal gewonnen werden, ab 2000 auch der Fahrer-WM-Titel, mit einer grossen Serie in den Jahren danach. Um einen solch tollen Lauf zu haben und sich an der Spitze zu halten, brauchen wir noch ein wenig Zeit.»

Alle Ferrari-Teamchefs

Seit 2019: Mattia Binotto
2014–2018: Maurizio Arrivabene
2014: Marco Mattiacci
2007–2014: Stefano Domenicali
1993–2007: Jean Todt
1992/1993: Sante Ghedini
1991: Claudio Lombardi
1989–1991: Cesare Fiorio
1978–1988: Marco Piccinini
1977: Robert Nosetto
1976: Daniele Audetto
1976: Guido Rosani
1974/1975: Luca Montezemolo
1973: Sandro Colombo
1971/1972: Peter Schetty
1968–1970: Franco Gozzi
1967: Franco Lini
1962–1966: Eugenio Dragoni
1958–1961: Romolo Tavoni
1957: Mino Amorotti
1956: Eraldo Sculati
1952–1955: Nello Ugolini
1947–1951: Federico Giberti
1935–1940: Nello Ugolini
1934: Federico Giberti
1932/1933: Mario Lolli
1930/1931: Saracco Ferrari

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